Die Stadtkirche zwischen Kloster und Stadt
Dem Galluskloster verdankt die Stadt St. Gallen ihre Entstehung. Bis heute bildet der Stiftsbezirk den innersten Kern der Stadt. Die sich ans Kloster anlehnende Siedlung wurde nach den Ungarneinfällen im 10. Jahrhundert erstmals ummauert. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bereits damals an der Stelle der heutigen St. Laurenzenkirche eine Kapelle stand. Im Jahr 1235 ist sie erstmals als Pfarrkirche der sich verselbständigenden Stadt erwähnt. Ihre Bedeutung für die Stadt wuchs in dem Masse, wie diese sich vom Kloster abwandte, insbesondere nach der Reformation. Direkt an der seit 1566 durch eine 10 m hohe Mauer markierten Grenze zum Klosterbezirk gelegen, konnte St. Laurenzen trotzdem nie zu einem städtebaulichen Zentrum werden. Erst als nach der Aufhebung des Klosters 1818 diese Schiedmauer wieder abgebrochen wurde, entstand die heutige Strassenachse, die vom Marktplatz aus an der Laurenzenkirche vorbei auf die Türme der ehemaligen Klosterkirche, der jetzigen Kathedrale, zusteuert.
1413: Eine Kirche für die Stadt
Im Jahr 1413 erreichte die Stadt, dass die bisher dem Kloster gehörende Laurentiuskirche in die eigene Verwaltung überging; die Stadt konnte nun den Pfarrer nominieren und war auch für den Unterhalt zuständig. Wie um die neue Eigenständigkeit gegenüber dem Kloster zu demonstrieren, nahm die aufblühende Textilstadt in demselben Jahr sogleich einen Neubau in Angriff.
Der süddeutsche Baumeister Michel von Safoy (Savoyen) plante eine basilikale Kirche, bei welcher sich das Mittelschiff über die Dächer der Seitenschiffe erhoben hätte und durch Rundfenster belichtet worden wäre. Der Stadtbrand von 1418 scheint jedoch den Baueifer der Stadt gebremst zu haben. Man verzichtete auf diese Fenster und zog das Dach des Mittelschiffs direkt über die Seitenschiffe hinunter, obwohl Meister Michel sich gegen diese ästhetisch und konstruktiv unbefriedigende Lösung wehrte.
Im Zug der Reformation wurde die Kirche im Dezember 1526 von Götzen und Bildern gesäubert und diente fortan als reformierte Stadtkirche. Die wachsende Bevölkerung hatte bereits 1513 den Anbau der nördlichen Seitenempore erfordert, 1577 wurde im Süden eine zweite entsprechende Empore errichtet. Der Kirchenraum verlor damit viel von seiner ursprünglichen Ausrichtung auf den Altarraum im Osten und wurde recht eigentlich zu einem reformierten Predigtraum.
Die reformierte Stadt St. Gallen
Bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft (1798) gab es zwei Staatswesen mit dem Namen St. Gallen: 1. die Fürstabtei - ihr Landesherr residierte im Kloster und regierte über die umliegende Landschaft vom Bodensee bis ins Toggenburg. 2. die freie Reichsstadt St. Gallen - diese war nach Zürich die zweite reformierte Stadt der Schweiz. Am 5. April 1524 wurden die Prediger der städtischen Pfarrkirche St. Laurenzen vom Rat aufgefordert, von jetzt an das heilige Evangelium ‹hell, klar und gemäss der richtigen christlichen Auslegung zu verkündigen - ohne die Beimischung menschlicher Zusätze, die mit der Bibel nicht begründet werden können›. Auf dieser Basis wurde das Kirchenwesen von Grund auf neu geordnet. Die Stadt St. Gallen anerkannte weder Papst noch Bischof und ordnete den Gottesdienst, aber auch das Bildungs- und das Armenwesen neu. Theologisch schloss man sich dem Zürcher Reformator Zwingli an, lernte aber auch von Luther. St. Gallen war die einzige Stadt der Schweiz, die 1529 in Speyer die Protestation der evangelischen Reichsstände gegen die Religionspolitik Kaiser Karls V. unterzeichnete. Von dieser Protestation leiten sich die Wörter protestantisch, Protestanten und Protestantismus ab. Nach dem gescheiterten Versuch, die Reformation mit Hilfe Zürichs auch im Klosterstaat einzuführen, lebten Protestanten und Katholiken schiedlich-friedlich nebeneinander. Vielleicht war es gerade die enge Nachbarschaft, derenthalben man den Glauben beiderseits besonders ernst nahm.
Neubau oder Renovation
Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war die Renovationsbedürftigkeit der Kirche unübersehbar. Auf eine private Initiative hin reichte der junge Architekt Johann Georg Müller 1845 ein Umbauprojekt ein, das sich schliesslich gegen Neubaupläne und andere Renovationsideen durchsetzte. Müllers Liebe zu alten Baudenkmälern liess ihn danach trachten, möglichst viel Bausubstanz zu erhalten (z.B. die sperrigen Emporen), aber auch dem äusserlich kastenartigen Bau wieder ‹kirchlichen Charakter› zu geben. Nach Müllers frühem Tod wurde sein Projekt mit einigen Änderungen 1850–1854 unter der Leitung der Architekten Ferdinand Stadler und Johann Christoph Kunkler ausgeführt. Ohne um die Pläne Michel von Safoys zu wissen, hatte Müller dessen Idee verwirklicht und das Mittelschiff erhöht, um über den Dächern der Seitenschiffe Fenster anbringen zu können. Die neuen gotischen Fassaden übernehmen den Baustil des 15. Jahrhunderts. Dank der denkmalpflegerischen Bestrebungen Müllers kam St. Gallen 1850 zur Besonderheit einer reformierten Kirche mittelalterlichen Stils.